Leicht. Gebogen. Funktionalisiert: Innovative Dünnglaser für neuartige Architekturen
Gläserne Gebäudehüllen sind aus der modernen Architektur nicht mehr wegzudenken. Obwohl Glasarchitektur für Leichtigkeit und Transparenz steht, sind jedoch die notwendigen großformatigen Fenster- und Fassadenelemente alles andere als leicht. Ein für die Glasarchitektur vielversprechender neuartiger Werkstoff ist dabei Dünnglas. Das hauchdünne Glas bietet enorme Festigkeit, hohe Flexibilität und außergewöhnliche Anwendungsmöglichkeiten für die Architektur. Derzeit befassen sich diverse Forscherteams an Universitäten mit der technischen und gestalterischen Weiterentwicklung und Integration von Dünnglas in architektonische Anwendungen. Aber auch Hersteller forschen in den eigenen Entwicklungsabteilungen und bieten bereits teils ausgereifte Dünnglassysteme und -elemente an.
Flexibilität von Dünnglas. Foto: Institut für Baukonstruktion TU Dresden.
Durch erhöhte Sicherheits- und Gebäudeklimaziele steigen auch die Anforderungen an Glaspaneele für Fenster- und Fassadenanwendungen, und damit meist auch die Querschnitte und das Eigengewicht der Gläser. Die Materialforschung schreitet jedoch mit riesigen Schritten voran – filigrane Konstruktionen und Formen die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären, werden plötzlich durch das Material Dünnglas als Baustoff möglich. Leistungsstarke Verbundmaterialien ergänzen die Palette der Glasbaustoffe, um gezielt den Ressourcenverbrauch und den ökologischen Fußabdruck zu verringern oder die technischen Eigenschaften der Baustoffe an gewünschte Charakteristika anzupassen.
Was ist Dünnglas?
Wir alle kennen Dünnglas bereits. Allerdings in den meisten Fällen nicht als Baustoff, sondern als Hightech-Glas für Displays oder Touchscreens bei Smartphones und Tablets. Dünnglas ist ein nur 0,1 mm bis 2 mm dickes, chemisch verstärktes Glas, das – nachdem es vorgespannt wurde – extrem robust, stoß- und kratzresistent ist. Es ist, wie konventionelles Glas, beständig gegen Umwelteinflüsse und vergilbt im Gegensatz zu Kunststoffen nicht. Aspekte, die auch von Vorteil in der Architektur sind. Das Glas lässt sich für architektonische Anwendungen meist im herkömmlichen Floatverfahren herstellen, beispielsweise in der Floatglasproduktion des Glasherstellers Guardian, wo Gläser mit nur 1 mm Dicke produziert werden (Guardian ExtraClear Glas). Weitere Hersteller für Dünnglas-Produkte sind beispielsweise Schott (Xensation), AGC (Falcon und Dragontrail) und Corning (Gorilla Glass). Ein Nachteil – oder vielleicht auch ein weiterer Vorteil? – von Dünnglas ist seine Flexibilität bzw. Biegsamkeit. Konventionelle Gläser können in gängigen Fenster- oder Fassadenelementen nicht einfach durch Dünnglas ersetzt werden, ohne zusätzlich ausgesteift oder stabilisiert zu werden. Nun kommen findige Wissenschaftler an Universitäten und Entwicklungsabteilungen der Fenster- und Fassadenhersteller ins Spiel, die sich die besonderen Eigenschaften des dünnen Glases zunutze machen, um daraus neuartige Glasanwendungen für die Architektur zu entwickeln, die beispielsweise gekrümmte oder verformbare Glasscheiben und Gläser mit technischen Zusatzfunktionen ermöglichen.
Status quo Dünnglasanwendung in der Architektur
Derzeit wird das superdünne und extraleichte Glas bereits als mittlere Scheibe bei Dreifach-Isolierverglasungen eingesetzt, um deren Gewicht zu reduzieren. Aufgrund der hohen Dämmeigenschaften ist die Verwendung von Dreifach-Isolierverglasungen mittlerweile zum Standard geworden. Mit zunehmender Größe der Fassadenpaneele stellen jedoch reguläre Dreifachgläser durch ihre hohen Gewichte nicht nur Monteure, sondern auch die Beschläge vor große Herausforderungen. Eine Alternative schaffen Systeme mit Dünnglas, deren technologische Entwicklung so weit vorangeschritten ist, dass sie die benötigten Werte für Wärmeschutz, Energiedurchlassgrad und Lichttransmissionsgrad erzielen, teils sogar überschreiten. Unternehmen wie Saint-Gobain Glassolution oder Energy Glas GmbH waren hier Vorreiter und brachten erste Produkte auf den Markt. Bislang findet die Dünnglastechnologie u.a. auch Verwendung im Rahmen von Solarthermie-Sonnenschutz-Fenstern aus Dünnglas (Erfis GmbH) oder auch als sprengwirkungshemmendes Dünnglas (AGC Interpane), um nur einige zu nennen.
Technischer Ausblick: Angriffhemmende Isoliergläser
Am Lehrstuhl für Tragkonstruktion der Universität Siegen wurde eine neuartige Kombination von Dünnglas mit Polycarbonat als Sicherheitssonderverglasung entwickelt, dessen Flächengewicht um bis zu 72 % leichter ist als gängige angriffhemmende Gläser. Diese Verbundtafeln bestehen aus zwei äußeren Dünnglasscheiben und einer inneren Polycarbonatschicht, verbunden über eine thermoplastisches Polyurethan. Sie bieten, je nach Anforderungen unterschiedliche Eigenschaften, wie schlanke Querschnitte, besondere Dämmeigenschaften, geringes Gewicht oder hohe Einbruchssicherheit. Oder auch eine Kombination aus allen genannten Aspekten. Denn bisher, so die These der Forscher, gäbe es noch technische Herausforderungen bei Sicherheitssonderverglasungen, die zusätzlich auch als Isoliergläser funktionieren. Der Bedarf an solchen Kombilösungen steigt stetig. Eine Lösung zur Entwicklung von angriffhemmenden Isoliergläsern liegt darin, nicht nur – wie bisher bei Mehrscheiben-Isolierglas mit Sicherheitsanforderungen üblich – den Widerstand der äußeren Schicht zu erhöhen, sondern alle drei Schichten gegen Angriffe zu sichern. Konkret wurde also ein Dreischeiben-Isolierglas aus zwei Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafeln mit angriffhemmender Funktion als Innen- und Außenscheibe sowie einem Dünnglas als mittlere Scheibe entwickelt. „Die angriffhemmende Wirkung liegt bei dem neuartigen Verglasungsaufbau deshalb nicht nur auf einer Schicht mit einer relativ großen Nenndicke, sondern alle vorhandenen Schichten beteiligen sich am Widerstand gegen manuellen Angriff. Das Dreischeiben-Isolierglas erreicht unter erstmaliger Aktivierung aller Schichten für die Angriffhemmung die höchste Widerstandsklasse P8B gegen manuellen Angriff sowie die aktuellen Anforderungen an den Wärmeschutz mit einem 15 % schlankeren und bis zu 50 % leichteren Verglasungsaufbau“, erläutert Prof. Thorsten Weimar, Leiter vom Lehrstuhl für Tragkonstruktion der Universität Siegen.
Aufbau einer Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafel bestehend aus 2 x 2,00 mm Dünnglas, 2 x 2,00 mm Zwischenschicht und 2,00 mm Polcarbonat (links) sowie 2 x 0,85 mm Dünnglas, 2 x 2,00 mm Zwischenschicht und 2,00 mm Polycarbonat (rechts). Foto: Lehrstuhl für Tragkonstruktion, Universität Siegen.
Prüfung mit der Axt zum Nachweis des Widerstandes gegen manuellen Angriff für eine Dünnglas-Polycarbonat-Verbundtafel. Foto: Lehrstuhl für Tragkonstruktion, Universität Siegen.
Gestalterischer Ausblick: Gekrümmte, verformbare und funktionalisierte Fassadenanwendungen
Studenten und Wissenschaftler der TU Delft und TU Dresden arbeiten derzeit daran, das ästhetische Potenzial von Dünnglas für die Fassadengestaltung auszuweiten. Anhand von Masterarbeiten an der TU Delft wurden kreative Ideen und Prototypen für gekrümmte, verformbare und funktionalisierte Fassadenanwendungen entwickelt, die nun an der TU Dresden unter Leitung von Dr. Christian Louter, Professor am Institut für Baukonstruktion, weiter erforscht werden. Anstatt die Biegsamkeit der Dünnglasscheiben als Nachteil zu verstehen, machten sich die Studenten die Möglichkeit des Kaltbiegens zunutze und entwickelten adaptive Glasfassadenkonzepte, die sich z. B. den Witterungsbedingungen anpassen könnten. Die variierende Krümmung der Glaselemente erfüllt dabei ästhetische Kriterien und bietet zusätzlich einen haustechnischen Mehrwert etwa als Bestandteil des Lüftungs- und Klimakonzepts oder um fassadenintegrierte Photovoltaik optimal an den Sonnenstand anzupassen. Neben ersten Ideen, wie diese adaptive Krümmung technisch umsetzbar sein könnte – etwa über mechanische Schienensysteme, Drähte mit Formgedächtnislegierung oder über pneumatisch betriebene Luftkammerelemente – wurden bereits auch Ansätze entwickelt, wie ein bewegliches Dünnglasfassadenelement im geschlossenen Zustand trotzdem die Wasser- und Luftdichtigkeit der äußeren Hülle garantiert. Hier arbeiteten die Studenten u. a. mit Magnetsteifen oder elastischen Geweben, die an den gekrümmten Seiten des Glases zur Abdichtung herangezogen werden.
Dünnglasverbundplatten mit 3D-Druck-Kernen
Ein ebenfalls ästhetisch ausgerichteter Entwicklungsansatz von TU Delft und TU Dresden befasst sich der Entwicklung von leichten Verbundglasscheiben aus Dünnglas, die durch einen integrierten Kern versteift werden. So können Verformungen und Vibrationen des Dünnglases vermieden werden. Dazu wird ein 3D-gedrucktes Hohlkernmuster im Scheibenzwischenraum mit zwei Dünnglas-Außenschichten verklebt. Neben unterschiedlichen Strukturen und Materialien für den Kern wurden auch verschiedene Verfahren für Klebung und Laminierung verglichen. Als innerer 3D-gedruckter Kern wurden u. a. eine wabenförmige Aramidstruktur, offenzellige Fachwerkkerne oder perforierte, hyparförmige Kerne aus verschiedenen Materialien und in unterschiedlichen Transparenzgraden getestet. Ziel war es, die Struktur des Kerns zur Gewichtsreduktion entsprechend des Kraftverlaufs zu optimieren. „Die Dünnglasverbundplatten ermöglichen sehr steife und dennoch sehr leichte Fassadenverglasungselemente, die viele Vorteile mit sich bringen, wie Material- und Gewichtsreduzierung der Elemente aber damit verbunden auch eine Reduktion der Unterkonstruktion und des Gesamtgewichts des Gebäudes. Die Installation wird durch leichtere Elemente vereinfacht und die Transportenergie reduziert“, beschreibt Prof. Christian Louter. Leiter des Instituts für Baukonstruktion der TU Dresden.
Zukunft des konstruktiven Glasbaus mit Dünnglas
„Obwohl Glas ein vergleichsweise alter Baustoff ist, ist im Bereich der Forschung noch lange kein Ende in Sicht“, prophezeit Prof. Jens Schneider vom Institut für Statik und Konstruktion der TU Darmstadt. Am dort angesiedelten Glass Competence Center (GCC) arbeiten Forscher an diversen Schwerpunktthemen der Glastechnik, die derzeit in vier Richtungen weisen: dünner, größer, dicker oder 3D-gedruckt. Auch am GCC suchen Wissenschaftler weiter nach neuen Anwendungen für Dünnglas im Bauwesen. „Das könnten beispielsweise in sich bewegliche Fenster sein, dämmende und gleichzeitig transparente Fassaden oder pneumatisch gestützte Glaskissen,“ erläutert Schneider weiter.
An dieser Stelle kommen nun die Hersteller ins Spiel, die aus der Vielzahl der Ideen und Möglichkeiten aus der universitären Grundlagenforschung nun in ihren Entwicklungsabteilungen konkrete Produkte und System entstehen lassen. Die technischen und gestalterischen Möglichkeiten klingen zumindest schon mal vielversprechend.
Bettina Sigmund
Fachjournalistin mit Schwerpunkt Architektur und Baubranche und Inhaberin von »aboutarchitecture«, einer Agentur für Architekturkommunikation.