Gepostet von Tim Westphal
am 17.12.2020
Biologische Tragsysteme in reale Architektur übersetzt
Baubotanik als Bauprinzip
Schauen wir auf die uns umgebenden Bauwerke, so erschließen sich deren Tragsysteme oft nicht auf den ersten Blick. Verpackt hinter Fassaden und unter Dachsteinen lässt sich oft nur erahnen, was dahintersteckt. Dabei ist zum Beispiel das statische Grundprinzip von Träger und Stütze viel älter, als die Menschheit selbst. Und lange bevor der erste schlaue Baumeister verstand, was Druck- und Zugkräfte sind, zeigte ihm die Natur bereits, wie Statik wirklich funktioniert.
Zusammenspiel von Biologie und Technik
Laufen wir mit offenen Augen durch unsere Städte, Parks und über Wiesen und Äcker, sind es vor allem Bäume, die mit ihren Stämmen und ausladenden Ästen der Gravitation trotzen und sich Richtung Sonne strecken. Aber auch im Mikrokosmos der Pflanzen und Gräser lässt sich immer wieder dieses erprobte Konstruktionsprinzip ablesen. Strukturen aus der Natur zu adaptieren, Bauprinzipien zu entwickeln und in Architektur zu überführen, ist keineswegs neu. In der jüngeren Konstruktionsgeschichte wird dies vor allem unter den Begriffen Baubionik und Baubotanik zusammengefasst. Mit der Baubionik sollen bautechnische Aufgaben durch den Einsatz biologischer Prinzipien gelöst werden. Populäre Beispiele hierfür sind Baumstützen, wie am Stuttgarter Flughafen verwendet oder bereits vor 130 Jahren die Tragstruktur des Eiffelturms, die auf die Natur zurückgreifen. Die Baubotanik wiederum ist eine Bauweise, bei der lebende Pflanzen und nicht lebende Konstruktionselemente miteinander verbunden werden. So entsteht eine Verbundstruktur aus gewachsenen und technischen Elementen. Populäre Beispiele hierfür sind die lebenden Brücken von Meghalaya oder der alte Brauch der sogenannten „Tanzlinde“ oder geleiteten Linden.
Baubotanik als Bauprinzip
Die lebenden Brücken wie die Tanzlinden sind sehr alte Anwendungen der Baubotanik. Doch in den letzten Jahren findet sie wieder verstärkten Einfluss in der neueren Architektur. Prof. Ferdinand Ludwig von der TU München forscht seit vielen Jahren in diesem Bereich. Mit seiner Professur für Green Technologies in Landscape Architecture ist er in diesem einzigartigen Sektor des Bauens unterwegs, entwickelt neue, räumliche Strukturen und untersucht deren technische Leistungsfähigkeit. Er setzt für seine Projekte auch verstärkt auf hybride Verbindungen zwischen Bäumen als primäre Tragstruktur und Stahlsysteme, die mit den Stämmen intelligent verbunden werden. Viel Aufmerksamkeit, auch international, erregte er in den vergangenen Jahren mit Projekten wie dem Baubotanischen Turm und dem Baubotanischen Steg. Aktuell arbeitet er an der Addition von Baumstämmen, die übereinander angeordnet und verbunden zu einem Organismus verschmelzen. Seine Vision: Gebäude und Bäume zu fusionieren – im übertragenen Sinne „atmende“ Häuser zu schaffen.
Gezüchteter Lebensraum aus lebenden Bäumen
Doch auch beispielsweise in den USA widmet man sich diesem wichtigen und längst nicht erschöpfend erforschten Ansatz der Verschmelzung von Natur, Konstruktion und Gebäude eingehend. Nicht etwa im Sinne von aufgeschütteten, lustigen Hobbit-Erdhütten, sondern ganz ernsthaft und mit großem Forscherdrang. Mitchel Joachim und seine professionsübergreifende Organisation Terreform stehen für progressive Architekturansätze und sind absolute Querdenker auf baulicher, sozialer und kultureller Ebene. Joachim entwickelte mit Terreform den „Fab Tree Hab“.
Fab Tree Hab bietet eine ausgeklügelte Methode, um Häuser aus lebenden Bäumen zu „züchten“. Dieser zu 100 % lebendige Lebensraum wird mithilfe eines Mehrweg-Gerüsts vorgefertigt. Die CNC-gefrästen Gerüstteile können dann unabhängig vom Standort des Hauses in einem Werk hergestellt und auf die Bau(m)stelle geliefert werden. Es sind Mehrweggerüste, um den Baumwuchs zu lenken. Parallel werden immer wieder Zweige aufgepfropft, so dass die Struktur zügig verwächst. Das raumbildende Gerüst, die Vorlage des Gebäudes sozusagen, wird nach Abschluss dieses Prozesses abgebaut und kann für ein neues Haus weiterverwendet werden. Wie bei Ferdinand Ludwig werden hier die Äste miteinander verwoben. Ein reales Beispiel in den USA für das Verweben von Bäumen ist der Basket Tree von Axel Erlandson. Die dadurch entstehende widerstandsfähige Struktur, ein durchgehender Gitterrahmen aus Wand und Dach, ist mit einer Schutzschicht aus Weinreben geschützt, die mit Grünpflanzen durchsetzt ist. Im Inneren schützt ein Stroh- und Lehmverbund vor Wärme oder Kälte von außen. Der bauphysikalische Komfort soll hierbei dem eines Lehmhauses entsprechen.
Ökologische Architektur und hoher Komfort
Unabhängig davon, wie dicht wir an der gebauten Realität mit Pilotprojekten und Denkansätzen der Baubotaniker Mitchell Joachim und Ferdinand Ludwig sind, zeigen doch beide sehr beeindruckend: Zukunftsfähige und ökologische Architektur muss nicht mit Komforteinbußen verbunden sein oder ständig Ressourcen zerstören. Der Eingriff in die Umwelt, den wir mit baubotanischen Konstruktionen erzeugen, ist deutlich kleiner als bei konventionellen Baumethoden. Im Sinne des ökologischen Fußabdrucks wird es also immer wichtiger, die Baubotanik voranzutreiben und darüber hinaus sinnvoll, klug sowie regional zu denken. Ganz nach dem Motto: „Think global, act local!“
Weiterführende Links zu unserem Artikel
Artikel auf welt.de:
Fab Tree Hab
- https://www.archinode.com/Arch9fab.html
- https://youtu.be/IdBbH2f
Aktueller Fernsehbeitrag in der BR-Mediathek über F. Ludwig:
Aussichtsturm F. Ludwig:
Quelle Portraits:
- Prof. Ferdinand Ludwig
- Mitchel Joachim https://en.wikipedia.org/wiki/Mitchell_Joachim
Tim Westphal
Autor und Branchenexperte, spezialisiert im Architekturjournalismus auf erklärungsbedürftige Themen und komplexe Baugeschichten.