Gepostet von Tim Westphal
am 19.03.2020
Wohne, wie du lebst und lebe, wie du willst!
Über den Zuzug und den Weggang in den Städten und Gemeinden
Was bestimmt, ob eine Stadt, ein Dorf, eine Region lebenswert ist? Gibt es hierfür objektive Faktoren und Parameter oder eine Checkliste, die es uns ermöglicht, stets die richtige Architektur am passenden Ort zu bauen? Wohl kaum, wenn wir uns durch deutsche Vorstädte bewegen und mit offenen Augen über Jägerzäune und hinter Gabionenwände schauen. Und wir sollten durchaus noch weiter ins Hinterland blicken: Objektive Architekturqualität und individuelle Bedürfnisse der Bewohner in Einklang zu bringen, ist schwerer als gedacht. Dabei existiert seit jeher so etwas wie ein Ehrenkodex unter den Architekturschaffenden: Technologie und Ästhetik, Genius loci und persönliche Bedürfnisse von Bauherren und Bewohner miteinander zu vereinen.
Stadt formt den Menschen. Und umgekehrt
Aber zurück zur Frage, was eine Stadt, respektive ein Dorf, lebenswert macht. Vor allem Sozialwissenschaftler haben sich in den vergangenen Jahrzehnten der Suche nach umfassenden Antworten gewidmet. Bis heute bemerkenswert ist eine Studie aus dem Jahr 2014, die als Publikation Städte unterscheiden lernen zu erhalten ist. Darin zeigen Martina Löw (TU Berlin) und Helmuth Berking (Universität Darmstadt), wie sich Menschen in den Städten Dortmund, Frankfurt, Birmingham und Glasgow fühlen. Die Antworten sind vielschichtig, doch sind es unter anderem Stadtgeschichte, politische und wirtschaftliche Entwicklungen und die Bewohner selbst, die zum Teil über Jahrhunderte nachwirken und den Habitus einer Stadt prägen. So ist es zum Beispiel verständlich, dass lange nach dem offiziellen Ende der Monarchie die höfische Luxusproduktion in Städten wie Paris oder Wien bis heute den mondänen Charakter dieser Städte prägen. Orte wie Duisburg oder Eisenhüttenstadt stehen wiederum bis heute für eine geerdete Stadt mit proletarischem Habitus. Und dies genauso von deren Einwohnern getragen und adaptiert wird.
Damit wäre eine simple Lösung für ein glückliches und zufriedenes Leben also: Gehen Sie dorthin (oder bleiben Sie, falls Sie schon da sind), wo der Habitus und das Eigenleben von Stadt, Gemeinde und Bewohnern Ihren Wünschen und Anforderungen am meisten entspricht. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn hinzu kommen Faktoren wie der richtige Arbeitsplatz im richtigen Ort und mindestens genauso entscheidend ist die persönliche Bindungen zu Familie und Freunden sowie ein funktionierendes soziales Umfeld.
Integration und Anpassung
Was also, wenn ein Umzug in eine andere Stadt aus beruflichen Gründen nötig ist? Wie erfährt man mehr über die Eigenlogik dieser Stadt? Soziologin und Publizistin Brenda Strohmeier hat dies beispielhaft an der Bundeshauptstadt Berlin untersucht. Zentral für alle Neu-Berliner, so stellte sie in ihrem Buch Wie man lernt Berliner zu sein heraus, war das Ankommen in der Stadt und die Integration in den ungewohnten, einzigartigen und komplexen Berliner Alltag. Adaption und Integration sind hierbei wichtige Schlüssel, um sich schnell heimisch zu fühlen – darwinsche Anpassungsregeln, die im Übrigen nicht nur in der Stadt, sondern auch für das Land gelten.
Effizienter Planen und Bauen
Doch was bedeuten diese Handlungsweisen und die persönliche Auseinandersetzung mit Stadt, Land und Leuten für Architektur und die Architekten? Vor allem, wenn immer mehr Menschen zuwandern und gleichzeitig zu wenig Wohnraum vorhanden ist? Ein Phänomen übrigens, dass auch Städte in unseren Nachbarländern, zum Beispiel Wien, trifft. Hier setzt als ein entscheidendes Korrektiv die Baupolitik an: Im aktuellen Koalitionsvertrag werden 1,5 Mio. neue Wohnungen in der Bundesrepublik bis 2021 gefordert. Fertig gestellt wurden im kompletten Jahr 2018 lediglich 295.800. Rechnerisch müssten es jedoch 375.000 p.a. sein, um das Regierungsziel zu erreichen. Effiziente und schnellere Planung dank digitaler Planungsmethoden wie BIM, gezielte Vorfertigung und das Bauen mit Systemen nehmen zwar weiter Fahrt auf, können aber nicht die fehlenden mehr als 100.000 Wohnungen pro Jahr kompensieren. Eine Lösung für dieses Problem ist bei der aktuellen Auslastung von Handwerkern, beispielsweise in Berlin mit 93%, nicht in Sicht.
Zukunftssichere Konzepte – nicht nur für Metropolen
Eine Lösung dieser Aufgabe liegt in der Stärkung der ländlichen Regionen und der Unterstützung von unkonventionellen Programmen, die eine weitere Abwanderung verhindern soll. Die ZEIT setzte sich in einem Online-Feature mit den zahlreichen Fragestellungen und auch Vorurteilen über „Städter“ und „Dörfler“ auseinander. Wohlgemerkt: Mehr als 70 % der deutschen Bevölkerung leben in Städten und Gemeinden, die weniger als 100.000 Einwohner haben. Sprechen wir also immer nur über Metropolen wie Hamburg, Berlin, Frankfurt oder München, klammern wir mehr als zwei Drittel von aktuell 83 Mio.
Zwei Beispiele, die diese These untermauern, sind Montabaur und Hallstadt. In Montabaur in Rheinland-Pfalz leben heute 14.000 Einwohner, Tendenz weiter steigend. Seit der Anbindung an die ICE-Strecke Köln-Frankfurt im Jahr 2002 geht es aufwärts mit dem ehemals verschlafenen Städtchen. Investitionen in neue Infrastruktur und die staufreie Anbindung an die Metropolen Köln und Frankfurt (nur 30 Minuten mit dem ICE) zahlen sich aus. Die Gemeinde ist attraktiv für Einwohner und Unternehmen, die Mieten sind günstig und der Zuzug seit Jahren ungebrochen. Neben der schützenswerten Altstadt und dem Schloss entsteht auch beachtenswerte neue Architektur wie das Kleine Museum MarkenTurm.
Ähnlich verhält es sich im fränkischen Hallstadt. Die in der Nähe von Bamberg gelegene Gemeinde hat viel für die Revitalisierung des Ortes getan. Unter dem Namen Neue Mitte Hallstadt entstand hier unter anderem der Neubau der Marktscheune, die als multifunktionales Gebäude moderne Architektur und historischen Bestand verbindet. Die gut 8.500 Einwohner nehmen das Gebäude und ihre neue Ortsmitte an. Das Engagement zahlt sich aus und Beachtung findet das Projekt weit über die Region hinaus, wie die Auszeichnung mit dem Deutschen Städtebaupreis 2016 zeigt.
Tim Westphal
Autor und Branchenexperte, spezialisiert im Architekturjournalismus auf erklärungsbedürftige Themen und komplexe Baugeschichten.